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Stefan Radau

FRÜHLINGSSONATE

Die Sonne tauchte das kleine Alpendorf in warmes Licht, als die achtjährige Johanna Dryander zum ersten Mal die Frühlingssonate hörte. Sie saß auf der abgenutzten Holzbank vor dem Haus ihres Vaters, die Füße baumelten in der Luft, zu kurz noch, um den Boden zu berühren. Ihre Finger spielten unbewusst mit den Fransen ihres Schals, während die Klänge aus dem alten Radio drangen, das ihr Vater auf die Fensterbank gestellt hatte.

Die Melodie schien die Luft zu verwandeln. Johanna hielt den Atem an, als die ersten Noten der Violine erklangen – sanft, fast zögerlich, wie die ersten Sonnenstrahlen an einem Frühlingsmorgen. Dann schwoll die Musik an, wurde kräftiger, lebendiger, wie ein Bach, der nach der Schneeschmelze anschwillt.

»Papa!«, rief sie aufgeregt. »Hörst du das? Das ist so schön!«

Friedrich Dryander, der gerade dabei war, eine seiner präzisen Uhren zu reparieren, blickte kurz von seiner Arbeit auf. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein wettergegerbtes Gesicht. »Das ist Beethoven, Johanna. Die Frühlingssonate.«

Johanna schloss die Augen und ließ sich von der Musik tragen. Sie sah blühende Almwiesen vor sich, hörte das Läuten der Kuhglocken und das ferne Rauschen des Gebirgsbaches. Die Melodie schien all das in sich zu vereinen, was sie an ihrer Heimat liebte – und gleichzeitig weckte sie eine Sehnsucht in ihr, die sie noch nicht ganz verstand.

Als die letzten Töne verklangen, öffnete Johanna die Augen. Die Welt um sie herum schien verändert. Das alte Holzhaus ihres Vaters, die engen Gassen des Dorfes, die majestätischen Berge – alles war noch da, und doch anders. Als hätte die Musik einen Schleier gelüftet und ihr einen Blick auf etwas Größeres, Schöneres gewährt.

»Ich will das auch können, Papa«, sagte sie leise, fast zu sich selbst. »Ich will Geige spielen. So wie in der Sonate. So wie Mama.«

Friedrich seufzte kaum hörbar. Er legte sein Werkzeug beiseite und trat ans Fenster. Sein Blick schweifte über die vertraute Landschaft, die sich seit Generationen kaum verändert hatte. »Johanna«, sagte er sanft, aber bestimmt, »wir sind Uhrmacher. Das ist unsere Tradition, unser Erbe.«

Johanna spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Sie liebte ihren Vater, liebte die filigranen Uhren, die er mit so viel Hingabe reparierte. Aber die Musik hatte etwas in ihr berührt, das tiefer ging als alle Tradition.

»Aber Papa«, flüsterte sie, »kann ich nicht beides sein? Eine Dryander und ... eine Musikerin?«

Friedrich antwortete nicht sofort. Er betrachtete seine Tochter, sah das Leuchten in ihren Augen, das er nur zu gut kannte. Es war das gleiche Leuchten, das er vor vielen Jahren in den Augen ihrer Mutter gesehen hatte.

»Wir werden sehen, Johanna«, sagte er schließlich. »Wir werden sehen.«

Johanna nickte, zufrieden mit dieser Antwort, die weder ein Ja noch ein Nein war. Sie wusste noch nicht, dass dieser Moment der Beginn eines langen Kampfes sein würde – eines Kampfes zwischen Pflicht und Leidenschaft, zwischen den Erwartungen anderer und ihren eigenen Träumen.

Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden hinter den Berggipfeln, und die Schatten im Tal wurden länger. Doch in Johannas Herzen erklang weiterhin die Melodie der Frühlingssonate, ein Versprechen von etwas Größerem, das jenseits der Berge auf sie wartete.

Die Jahre vergingen, und das kleine Mädchen, das einst verzaubert der Frühlingssonate gelauscht hatte, wuchs zu einer jungen Frau heran. Johanna Dryander, nun siebzehn Jahre alt, stand am Fenster ihres Zimmers und blickte auf das Dorf hinab. Es war früher Morgen, und der Nebel hing noch zwischen den Häusern, als wolle er die Zeit selbst verlangsamen.

In ihren Händen hielt sie eine Geige – nicht irgendeine Geige, sondern ein altes Instrument, das einst ihrer Mutter gehört hatte. Friedrich hatte es ihr an ihrem fünfzehnten Geburtstag gegeben, widerwillig zwar, aber mit einem Blick, der mehr sagte als tausend Worte. Es war sein Weg, ihr zu zeigen, dass er ihre Leidenschaft verstand, auch wenn er sie nicht immer unterstützen konnte.

Johanna hob die Geige an ihr Kinn und schloss die Augen. Die Melodie der Frühlingssonate floss durch ihre Finger, als wäre sie ein Teil von ihr. Sie hatte jahrelang heimlich geübt, hatte jede freie Minute genutzt, um besser zu werden. Die Musik war ihr Ausweg, ihr Fenster zu einer Welt jenseits der Berge.

Unten in der Werkstatt hörte Friedrich das Spiel seiner Tochter. Seine Hände, die gerade dabei waren, das Uhrwerk einer antiken Standuhr zu justieren, hielten für einen Moment inne. Er schloss die Augen und ließ die Melodie über sich waschen. In solchen Momenten konnte er nicht leugnen, dass Johanna ein außergewöhnliches Talent besaß.

Doch mit dem Stolz kam auch die Sorge. Er wusste, dass die Welt außerhalb des Tals hart und unberechenbar war. Hier, in der Geborgenheit des Dorfes, war Johannas Zukunft sicher. Als Uhrmacherin würde sie ein respektiertes Mitglied der Gemeinschaft sein, würde das Erbe ihrer Familie fortführen. Aber als Musikerin? Friedrich schüttelte den Kopf. Es war ein unsicherer Weg, voller Risiken und Enttäuschungen.

Oben in ihrem Zimmer ließ Johanna die Geige sinken. Ihr Blick wanderte zu dem kleinen Schreibtisch, auf dem ein aufgeschlagener Brief lag. Es war eine Einladung zu einem Vorspiel an der Musikhochschule in der Stadt. Eine Chance, von der sie immer geträumt hatte. Doch um sie wahrzunehmen, müsste sie das Dorf verlassen, müsste alles hinter sich lassen, was ihr vertraut war.

Sie trat ans Fenster und blickte hinaus auf die Berge, die sich majestätisch am Horizont erhoben. Sie waren immer da gewesen, unveränderlich, eine ständige Erinnerung an die Beständigkeit ihrer Heimat. Aber jetzt schienen sie ihr wie eine Mauer, die sie von der Welt da draußen trennte.

Johanna seufzte. Sie wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Eine Entscheidung zwischen der Sicherheit des Bekannten und dem Ruf ihres Herzens. Zwischen der Tradition ihrer Familie und dem Traum, der in ihr brannte.

Sie hob die Geige erneut und schloss die Augen. Diesmal war es keine bekannte Melodie, sondern etwas Neues, etwas, das direkt aus ihrer Seele zu kommen schien. Es war eine Melodie voller Sehnsucht und Hoffnung, aber auch voller Zweifel und Furcht. Es war die Melodie ihres Lebens, das Lied ihrer Zukunft, die noch ungeschrieben vor ihr lag.

Unten in der Werkstatt hörte Friedrich die neue Melodie. Er erkannte die Frühlingssonate darin, aber es war mehr als das. Es war etwas Eigenes, etwas Besonderes. Und in diesem Moment wusste er, dass er seine Tochter nicht würde aufhalten können. Dass ihr Weg sie vielleicht weit weg führen würde, weit weg von den Uhren und den Bergen und allem, was er ihr hatte geben wollen.

Als die letzten Töne verklangen, stand Johanna noch lange am Fenster. Die Sonne war nun vollständig aufgegangen und tauchte das Tal in goldenes Licht. Ein neuer Tag begann, und mit ihm die Verheißung einer Zukunft, die noch ungeschrieben war.

In diesem Moment, zwischen den Echos der Frühlingssonate und dem Ticken der Uhren im Haus der Dryanders, stand Johanna an der Schwelle zu einem neuen Kapitel ihres Lebens. Ein Kapitel, das sie mit ihrer eigenen Melodie füllen würde, egal wohin sie der Weg auch führen mochte.

 

 

 

ALLEGRO 

I

Der Berliner Frühling explodierte in einem Farben- und Klangrausch. Johanna Dryander stand am offenen Fenster ihrer kleinen Dachgeschosswohnung, die kühle Morgenluft auf ihrer Haut. Sie sog die Symphonie des erwachenden Lebens unter ihr in sich auf - das ferne Rauschen des Verkehrs, das Zwitschern der Vögel, das Lachen der Kinder auf dem Weg zur Schule. Goldenes Sonnenlicht tanzte über die Dächer, wärmte ihr Gesicht. Der Puls der Stadt beschleunigte sich spürbar mit jeder Minute.

Mit einem tiefen Atemzug wandte Johanna sich ab und griff nach ihrer Geige. Das vertraute Gewicht des Instruments in ihren Händen verankerte sie in der Gegenwart, vertrieb für einen Moment die Nervosität, die seit Tagen an ihr nagte. Heute war der Tag, auf den sie jahrelang hingearbeitet hatte - das Vorspielen bei Emil Bronstein, dem renommiertesten Violinlehrer Berlins. Ein Studienplatz bei ihm würde nicht nur ihre musikalische Zukunft sichern, sondern auch beweisen, dass ihre Entscheidung, die Familientradition der Uhrmacherei für die Musik aufzugeben, die richtige war.

Die Anforderungen für das Vorspielen waren anspruchsvoll: Sechs Stücke mussten vorbereitet werden, drei vorgegebene und drei selbst gewählte, alle aus verschiedenen Epochen. Am Tag des Vorspiels würde sie eines selbst auswählen dürfen, während die Jury zwei weitere bestimmen würde. Diese Herausforderung hatte Johanna monatelang beschäftigt, jedes Stück bis zur Perfektion geübt.

Mit geschlossenen Augen hob Johanna den Bogen. Die ersten Töne von Bachs Chaconne erhoben sich, woben sich durch den Raum und hinaus in die Straßen Berlins - eine Herausforderung, ein Gebet. Johannas Mimik verspielt im Takt mit der Musik. In jede Phrase goss sie Sehnsucht und Triumph, Schmerz und Freude. Die Musik war ihr Anker, ihre Sprache, ihr Weg, die Welt zu verstehen und mit ihr zu kommunizieren.

Der letzte Ton verklang, und Johannas Augen öffneten sich abrupt. Ihr Blick fiel auf die alte Standuhr in der Ecke - ein Erbstück ihres Vaters. Sie starrte anklagend zurück. Eine Stunde bis zum Vorspielen.

Johannas Hände zitterten leicht, als sie behutsam die Geige in ihren Kasten legte. Ein letzter Blick in den Spiegel: blasse Haut, vor Konzentration zusammengezogene Augenbrauen, eine widerspenstige Locke, die sie hastig hinters Ohr strich.

Auf dem Weg zur Tür hielt Johanna an ihrem Schreibtisch inne. Ein gerahmtes Foto fiel ihr ins Auge - sie als Kind, strahlend neben ihrem Vater in seiner Werkstatt. Friedrich Dryanders stolzes Lächeln, seine Hand warm und sicher auf ihrer Schulter.

Die Erinnerung an diesen Tag traf sie wie eine Welle. Ihre erste reparierte Taschenuhr. Nichts Besonderes, eigentlich. Aber für ihren Vater… ein Triumph. Der Beweis, dass das Familienerbe weiterleben würde.

Johanna seufzte tief. Die Entscheidung, Musikerin zu werden, hatte einen Keil zwischen sie und ihren Vater getrieben. Für ihn war die Präzision der Uhrmacherei die höchste Kunst. Musik erschien ihm… frivol. Unnötig.

“Er hat dich gehen lassen”, erinnerte sie sich selbst. Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Kopf nach: “Die Zeit wird zeigen, ob du den richtigen Takt gefunden hast, Johanna. Aber es ist dein Leben, deine Entscheidung.”

Mit einem letzten Blick auf das Foto griff Johanna nach ihrem Geigenkasten und verließ die Wohnung.

Die Straßen Berlins umarmten sie mit ihrer vertrauten Energie. Studenten eilten zu Vorlesungen, Straßenmusiker stimmten ihre Instrumente. Der Rhythmus der Großstadt - so anders als das ruhige Tempo ihres Heimatdorfes - pulsierte durch Johannas Adern, trieb sie vorwärts.

Vor dem Konservatorium zögerten ihre Schritte. Das imposante Gebäude ragte vor ihr auf, ein Tempel der Musik. Andere Bewerber drängten sich vor dem Eingang, einige übten fieberhaft letzte Passagen, andere saßen still, in sich gekehrt.

“Johanna!” Eine vertraute Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Marc, ihr engster Freund seit Beginn ihres Musikstudiums, eilte auf sie zu. Seine Augen leuchteten vor Aufregung, aber Johanna konnte die Anspannung in seinen Schultern sehen. “Bereit, Geschichte zu schreiben?”

Sie zwang sich zu einem Lächeln, das nicht ganz ihre Augen erreichte. “So bereit, wie man nur sein kann. Und du?”

Marcs selbstsichere Fassade bröckelte für einen Moment. Er fuhr sich nervös durch die Haare. “Ich versuche, nicht daran zu denken, wie viele Größen Bronstein ausgebildet hat. Sonst werde ich noch verrückt.”

Johanna nickte verstehend. Sie beide wussten, was auf dem Spiel stand. Emil Bronstein hatte einige der besten Violinisten der Welt geformt. Bei ihm zu studieren bedeutete offene Türen, Chancen, von denen sie bisher nur geträumt hatten.

“Wir schaffen das”, sagte Johanna, ebenso zu sich selbst wie zu Marc. Sie griff nach seiner Hand, drückte sie kurz. “Wir müssen einfach spielen, als gäbe es kein Morgen. Als würde die Welt um uns verschwinden, und nur die Musik bleiben.”

Marc lächelte dankbar. “Du hast Recht. Wir sind nicht umsonst so weit gekommen.”

Die Tür zum Vorspielraum öffnete sich. Ein Assistent rief den nächsten Namen auf. Die Spannung im Raum wurde greifbar. Johanna schloss die Augen, atmete tief durch. Die Stimme ihres Vaters hallte in ihrem Kopf nach: “Konzentration und Präzision, Johanna. Wie ein Uhrwerk. Jedes Teil muss perfekt sein, damit das Ganze funktioniert.”

“Johanna Dryander.”

Sie stand auf, ihre Beine plötzlich wie Blei. Marc drückte noch einmal ihre Hand. “Zeig ihnen, was du drauf hast”, flüsterte er. “Verzaubere Sie mit deiner Musik.”

Der Vorspielraum wirkte größer, als Johanna erwartet hatte. Hohe Decken, große Fenster, durch die warmes Sonnenlicht fiel. Am anderen Ende des Raumes saßen fünf Personen an einem langen Tisch, ihre Gesichter ernst und konzentriert. Und dort, in der Mitte - Emil Bronstein. Sein durchdringender Blick schien direkt in Johannas Seele zu schauen.

“Guten Tag, Frau Dryander”, sagte er mit ausgeprägtem russischen Akzent. Seine Stimme war tiefer, als Johanna erwartet hatte. “Womit möchten Sie beginnen?”

Johanna spürte, wie ihr Herz raste. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. “Mit Bachs Chaconne, bitte.”

Bronstein nickte anerkennend. Die Chaconne - ein Wagnis, das nicht viele eingingen. Ein Stück, das nicht nur technische Perfektion, sondern auch tiefes musikalisches Verständnis erforderte.

Johanna hob ihre Geige, legte sie an ihre Schulter. Das vertraute Gewicht beruhigte sie. Sie schloss die Augen, ließ die Welt um sich herum verschwinden. Für einen Moment war sie wieder das kleine Mädchen in der Werkstatt ihres Vaters, das zum ersten Mal die Magie der Musik entdeckte.

Sie spielte.

Die Eröffnungsakkorde füllten den Raum mit einer Kraft und Klarheit, die Johanna selbst überraschte. Sie spürte, wie die Musik von ihr Besitz ergriff, wie jede Note, jeder Bogenstrich nicht nur von ihren Händen, sondern von ihrem ganzen Wesen ausging.

Die Chaconne entfaltete sich wie eine aufblühende Blume. Von majestätischem Beginn über den introspektiven Mittelteil bis zum triumphalen Finale - Johanna führte die Jury auf eine emotionale Reise. In ihrem Spiel verschmolzen technische Brillanz und tiefes musikalisches Verständnis zu etwas Größerem.

Als der letzte Akkord verklang, herrschte für einen Herzschlag absolute Stille im Raum. Johanna öffnete langsam die Augen und begegnete Bronsteins Blick. Für einen flüchtigen Moment glaubte sie, ein Lächeln in seinen Augen zu sehen.

“Sehr gut”, sagte Bronstein schließlich. Seine Stimme verriet keine Emotion. “Nun das Tschaikowski-Konzert, bitte. Erster Satz.”

Ohne zu zögern, stürzte sich Johanna in das leidenschaftliche Eröffnungsthema. Sie ließ ihre Geige singen, weinen, jubeln. Jede Phrase war sorgfältig gestaltet, jede technische Herausforderung mit scheinbarer Leichtigkeit gemeistert. In ihrem Kopf hörte sie das ganze Orchester, reagierte auf imaginäre Einsätze, erzählte eine Geschichte von Sehnsucht und Triumph.

Als sie endete, nickte Bronstein anerkennend. “Und zum Abschluss, Paganini.”

Johannas Herz machte einen Satz. Dies war der Moment der Wahrheit. Paganinis 24. Caprice - berüchtigt für seine teuflische Schwierigkeit. Ein Stück, das selbst erfahrene Violinisten ins Schwitzen brachte.

Sie holte tief Luft, sammelte sich. Dann begann sie zu spielen. Ihre Finger flogen über die Saiten, meisterten mühelos die komplizierten Doppelgriffe, die rasenden Läufe, die halsbrecherischen Sprünge. Es war, als würde die Musik direkt aus ihrer Seele strömen, ungefiltert und rein.

Als der letzte Ton verklang, wusste Johanna, dass sie alles gegeben hatte. Sie hatte ihr Herz, ihre Seele in diese Vorstellung gelegt. Langsam senkte sie den Bogen und blickte erwartungsvoll zur Jury.

Emil Bronstein lehnte sich zurück, seine Miene undurchdringlich. Für einen langen Moment sagte niemand etwas. Dann nickte er langsam. “Danke, Frau Dryander”, sagte er schließlich. “Wir werden Sie informieren.”

mit zitternden Knien verließ Johanna den Raum. Marc wartete draußen, seine Augen voller Fragen.

“Und?”, fragte er atemlos.

Johanna schüttelte benommen den Kopf. Die Anspannung der letzten Stunden fiel plötzlich von ihr ab, ließ sie erschöpft und unsicher zurück. “Ich weiß nicht”, murmelte sie. “Ich habe alles gegeben, aber… Bronstein ist so schwer zu lesen. Ich habe keine Ahnung, was er denkt.”

Marc legte tröstend einen Arm um ihre Schultern. “Du warst großartig, das weiß ich. Komm, lass uns einen Kaffee trinken gehen. Du brauchst jetzt eine Pause.”

Die nächsten Tage waren eine Qual des Wartens. Johanna versuchte, sich abzulenken - sie übte, komponierte, ging lange Spaziergänge durch die Stadt. Aber ihre Gedanken kreisten immer wieder um das Vorspielen. Hatte sie genug getan? War ihr Spiel technisch sauber genug, musikalisch überzeugend genug? Jedes Mal, wenn ihr Telefon klingelte, zuckte sie zusammen.

Die erlösende Nachricht kam an einem verregneten Nachmittag. Johanna saß an ihrem Schreibtisch, versunken in eine neues Stück welches sie einstudieren musste, als ihr Telefon klingelte. Die Nummer des Konservatoriums leuchtete auf dem Display.

Mit klopfendem Herzen nahm sie ab. “Hallo?”

“Frau Dryander?” Die Stimme des Assistenten klang freundlich. “Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie für das Stipendium bei Maestro Bronstein ausgewählt wurden. Herzlichen Glückwunsch!”

Die Worte trafen Johanna wie ein elektrischer Schlag. Für einen Moment war sie sprachlos, unfähig zu begreifen, was sie gerade gehört hatte. Dann brach es aus ihr heraus - ein Lachen, ein Schluchzen, eine Mischung aus Erleichterung und überwältigender Freude.

“Danke”, brachte sie schließlich hervor. “Vielen, vielen Dank.”

Sie hatte es geschafft. Die Chance ihres Lebens, der Traum, für den sie so hart gearbeitet hatte - er war Wirklichkeit geworden.

Mit zitternden Händen griff Johanna nach ihrem Handy. Sie musste es jemandem erzählen, musste diese unbändige Freude teilen. Ohne zu zögern, wählte sie Marcs Nummer.

"Marc!", rief sie, sobald er abnahm, ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. "Ich hab's geschafft! Ich bin angenommen!"

"Was? Johanna, das ist ja fantastisch!" Marcs Begeisterung war selbst durch das Telefon spürbar. "Ich wusste, du schaffst es! Wir müssen das feiern!"

"Ja, unbedingt!", stimmte Johanna zu, ihr Herz raste vor Freude. "Lass uns die anderen zusammentrommeln. Heute Abend, in unserer Stammbar am Prenzlauer Berg?"

"Perfekt! Ich kümmere mich darum. Um acht?"

"Um acht. Ich kann's kaum erwarten!"

Die Feier mit ihren Kommilitonen in der kleinen Bar am Prenzlauer Berg war ein Rausch aus Lachen, Musik und Träumen. Der Wein floss, Pläne wurden geschmiedet, die Welt schien ihnen zu Füßen zu liegen. Johanna, umringt von Freunden und Mitstreitern, fühlte sich wie im Zentrum eines Universums voller Möglichkeiten.

Die Feier mit ihren Kommilitonen in einer kleinen Bar am Prenzlauer Berg war ein Rausch aus Lachen, Musik und Träumen. Der Wein floss, Pläne wurden geschmiedet, die Welt schien ihnen zu Füßen zu liegen. Johanna, umringt von Freunden und Mitstreitern, fühlte sich wie im Zentrum eines Universums voller Möglichkeiten.

“Auf Johanna!”, rief Marc und hob sein Glas. Seine Augen glänzten vor Stolz. “Die nächste große Violinistin unserer Generation!”

Die anderen stimmten ein, und Johanna spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie lachte, trank und ließ sich von der Euphorie des Moments tragen. In ihrem Kopf formten sich bereits Melodien, Kompositionen, die sie eines Tages der Welt schenken würde.

Doch inmitten des Trubels, als das Lachen ihrer Freunde sie wie eine warme Decke umhüllte, spürte Johanna plötzlich einen Stich. Ein flüchtiger Gedanke an zu Hause, an die Berge, an ihren Vater. Für einen Moment sah sie sein Gesicht vor sich, die tiefen Furchen um seine Augen, die von Jahren harter Arbeit und stiller Sorge zeugten.

Sie griff nach ihrem Handy, zögerte. Was würde sie ihm sagen? Wie würde er reagieren? Würde er stolz sein oder nur enttäuscht, dass sie sich endgültig gegen die Familientradition entschieden hatte?

Mit einem leisen Seufzer steckte Johanna das Telefon wieder weg. Das Gespräch mit ihrem Vater konnte warten. Heute Nacht gehörte der Freude, dem Triumph, den Träumen von der Zukunft.

Sie hob ihr Glas, prostete ihren Freunden zu. “Auf die Musik”, sagte sie lächelnd. “Und auf alles, was noch kommen wird.”

Die Zukunft lag vor ihr, strahlend und voller Verheißungen. Aber Johanna wusste, dass der Weg nicht einfach sein würde. Das Studium bei Bronstein würde ihr alles abverlangen, sie an ihre Grenzen bringen und darüber hinaus.

Und irgendwo, tief in ihrem Herzen, wartete noch eine andere Herausforderung: Die Brücke zu ihrem Vater wieder aufzubauen, ihm zu zeigen, dass die Präzision der Musik der der Uhrmacherei in nichts nachstand. Dass sie ihren eigenen Weg gefunden hatte, ohne ihre Wurzeln zu vergessen.

Aber das war eine Aufgabe für morgen. Heute Nacht feierte Johanna ihren Triumph, umgeben von Freunden, getragen von Musik und der Gewissheit, dass sie genau dort war, wo sie sein sollte.

 

II

Der nächste Morgen empfing Johanna mit dem sanften Trommeln von Regentropfen gegen ihr Fenster. Noch benommen vom Vorabend öffnete sie die Augen, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Erinnerung an ihren Triumph durchströmte sie wie ein warmer Sommerwind.

Ihr Blick streifte den Briefstapel, den sie in der Euphorie des Vorabends achtlos beiseite geschoben hatte. Ein Umschlag stach hervor, anders als die üblichen Rechnungen und Werbungen. Das Papier war dick, die Handschrift vertraut. Ein warmer Schauer der Vorfreude und Sorge durchlief sie, als sie den vertrauten Stempel ihres Bergdorfes entdeckte.

Mit zitternden Fingern öffnete Johanna den Umschlag. Die Worte verschwammen vor ihren Augen, doch ihre Bedeutung traf sie wie ein Schlag:

Liebe Johanna,


ich hoffe, dieser Brief erreicht dich wohlauf. Es fällt mir nicht leicht, dir zu schreiben, aber die Umstände zwingen mich dazu. Dein Vater ist erkrankt. Er hat Krebs - Johanna. Die Ärzte sind besorgt, sein Zustand ist kritisch. Er spricht oft von dir, und auch wenn er es nicht zugibt - er braucht dich Johanna. Ich weiß, du hast dein eigenes Leben in der Großstadt, deine Träume und Ambitionen. Aber vielleicht findest du es in deinem Herzen, nach Hause zu kommen, wenn auch nur für eine Weile.

 

In Liebe,
Tante Maria

Die Welt um Johanna herum schien zu erstarren. Der Jubel des Vorabends, die Pläne, die Träume - alles verblasste angesichts dieser Nachricht. Sie starrte aus dem Fenster, sah aber nicht die grauen Häuserfronten der Metropole, sondern die schneebedeckten Gipfel ihrer Heimat, das kleine Haus am Dorfrand, in dem ihr Vater jetzt mit dem Tod rang ......

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