Stefan Radau
Gifted
Im Rausch der Gedanken
PROLOG
Der Himmel über Clara erstreckte sich, so weit das Auge reichte, unerreichbar und doch tröstlich in seiner Weite. Sie saß auf der alten Holzbank am Rande des Parks, umgeben von der Stille des Abends und blickte in das unendliche Blau hinauf, als könne sie dort die Antworten finden, nach denen sie so verzweifelt suchte. Es war einer dieser klaren Frühlingsabende, an denen die letzten Sonnenstrahlen die Wolken in ein sanftes Rosa tauchten, während der Himmel sich langsam in das tiefe Blau der Nacht verwandelte. Ein Moment des Friedens – und doch tobte in Clara ein Sturm.
In ihrem Inneren war nichts ruhig. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich, formten endlose Schleifen aus Selbstzweifeln, Fragen und unaufhörlicher Sehnsucht nach mehr. Schon als Kind hatte sie dieses Gefühl gehabt, als wäre sie gefangen in einem Meer von Gedanken, in dem sie nie stillstehen konnte. Während andere scheinbar mühelos durch das Leben schritten, ordneten sich ihre Gedanken in chaotischen Bahnen. Sie hatte lange geglaubt, alle würden so fühlen, bis sie merkte, dass die Welt um sie herum anders war – strukturiert, klar, einfach. Ihre hingegen war ein nie endendes Labyrinth.
In letzter Zeit war dieser innere Sturm stärker geworden. Clara fühlte sich verloren, als würde die Zeit an ihr vorbeiziehen, ohne dass sie wüsste, wohin sie gehörte. Sie war Mitte dreißig, geschieden, kinderlos und die Erwartungen, die an sie gestellt wurden – von ihrer Familie, von der Gesellschaft, von sich selbst – erdrückten sie. Ihr Bruder Lukas schien immer alles richtigzumachen. Er war der Perfekte, derjenige, der immer wusste, was er wollte und der all die Ziele erreichte, die sie sich nie zu setzen gewagt hatte. Während er seinen Weg zielstrebig ging, fühlte Clara sich, als würde sie in einem Strudel feststecken, der sie immer weiter nach unten zog.
Und dann, vor einigen Wochen, diese eine Erkenntnis, die alles infrage stellte. Ein einfacher IQ-Test, den sie aus einer Laune heraus gemacht hatte – mehr als Spielerei. Doch das Ergebnis hatte alles verändert: Hochbegabung. Das Wort hatte sie getroffen wie ein Donnerschlag. Sie, Clara, die immer dachte, sie sei nie gut genug, sollte hochbegabt sein? Es schien unmöglich. Ihr ganzes Leben hatte sie das Gefühl gehabt, ständig hinterherzulaufen, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Wie konnte sie begabt sein, wenn sie doch nichts Besonderes erreicht hatte?
Diese Erkenntnis war nicht die Erleichterung, die sie sich vielleicht erhofft hatte. Im Gegenteil, sie brachte eine Flut von neuen Fragen mit sich. Was hätte sie alles erreichen können, wenn sie das früher gewusst hätte? Hätte sie ihre Träume verwirklichen können, statt in Selbstzweifeln zu ertrinken? Was, wenn sie die falschen Entscheidungen getroffen hatte – wegen eines Selbstbildes, das nicht der Wahrheit entsprach?
Langsam stand Clara auf, ihre Beine schwer unter der Last dieser Gedanken. Sie begann, ziellos durch den Park zu gehen, während die Dunkelheit sich um sie legte. Der Abend war kühl, die Luft frisch, aber ihre Gedanken waren heiß, brennend vor Unruhe. Es war, als wäre sie in einem Käfig aus Unsicherheit gefangen, unfähig, einen Ausweg zu finden. Doch mit jeder Frage, die sich auftat, wusste sie tief in sich, dass dieser Moment ein Wendepunkt war. Die Welt hatte ihr eine neue Wahrheit offenbart – und es lag an ihr, ob sie den Mut hatte, diese zu leben. Clara blieb stehen, die Dunkelheit über ihr fast erdrückend, doch zugleich war da etwas in ihr, das sich zu regen begann. Ein kleines Flimmern, kaum wahrnehmbar, aber da. Vielleicht, nur vielleicht, war es noch nicht zu spät. Vielleicht konnte sie ihre Geschichte neu schreiben. Der Weg würde nicht einfach sein, das wusste sie. Aber sie war bereit, einen ersten Schritt zu tun – hinaus aus der Schattenwelt ihrer Selbstzweifel, hin zu einer Zukunft, die sie selbst bestimmen würde.
Mit einem tiefen Atemzug sah Clara noch einmal in den Nachthimmel. Die Sterne funkelten über ihr und für den Bruchteil eines Augenblicks fühlte sie sich verbunden mit dieser unendlichen Weite. Der Sturm in ihr legte sich nicht sofort, aber sie wusste, dass sie nun bereit war. Bereit, ihre Geschichte neu zu schreiben, bereit, den Weg zu gehen, der vor ihr lag – auch wenn sie ihn noch nicht ganz sehen konnte. Denn sie wusste: Sie würde ihn finden.
Kapitel 1
CLARAS STILLER STURM
Es war einer dieser Frühlingstage, an denen die Luft klar und kühl war, doch ein sanfter Hauch von Wärme versprach, die bald folgen würde. Die Bäume im Park erwachten gerade zum Leben, ihre frischen, grünen Blätter entfalten sich zaghaft in den zarten Sonnenstrahlen, während die Blumen in den Beeten mit ihrer Farbenpracht zu explodieren schienen. Die Welt um Clara herum pulsierte vor Energie und Neubeginn – und doch fühlte sie sich, als wäre sie in einem unsichtbaren Netz aus Stillstand und Unsicherheit gefangen. Wie ein Baum, der tief verwurzelt war, aber niemals blühte.
Sie saß auf einer Parkbank, den Blick auf den stillen See gerichtet, der ruhig vor ihr lag. Es war früh am Morgen und der Park war noch menschenleer. Die meisten Menschen waren vermutlich noch in ihren Wohnungen, begannen den Tag mit ihren Familien. Clara hingegen war schon seit den ersten Sonnenstrahlen auf den Beinen, getrieben von einer inneren Unruhe, die sie aus ihrer kleinen Wohnung hinaus in die frische Luft geführt hatte. Sie hatte gehofft, der Frühling – die Jahreszeit des Erwachens – würde auch in ihr etwas zum Leben erwecken, würde ihr Klarheit schenken. Doch stattdessen schien sich der Nebel in ihrem Inneren nur zu verdichten. Ihre Gedanken wanderten, wie so oft in letzter Zeit, zu ihrer Familie. Zu Lukas, ihrem älteren Bruder – dem perfekten Sohn, wie es schien. Lukas, der immer wusste, was er wollte, der sich niemals verlor. Mit seiner kleinen Familie und dem Erfolg, der ihm scheinbar mühelos zuflog, schien er alles zu haben, was sie nicht hatte. Ein Haus am Stadtrand, eine glückliche Ehe, Kinder, eine Karriere, die ihre Eltern voller Stolz in die Welt hinaustrugen. Lukas lebte das Leben, das ihre Eltern sich für ihre Kinder erträumt hatten, während Clara – Clara fühlte sich, als würde sie immer nur im Schatten stehen.
Es war nicht so, dass Lukas ihr dieses Gefühl bewusst gab. Im Gegenteil, er war stets warmherzig und verständnisvoll. Aber vielleicht war es genau das, was die Sache für Clara so schwer machte. Wie konnte sie jemandem grollen, der so makellos und gleichzeitig ein guter Mensch war? Ihre Eltern sprachen oft von Lukas, mit jener unausgesprochenen Bewunderung, die Clara schmerzlich an ihre eigene Unvollkommenheit erinnerte. Und dann kam sie – diese eine Frage, die immer gestellt wurde, beiläufig, fast unschuldig: »Und wie läuft es bei dir, Clara? Diese Frage war nie direkt vorwurfsvoll, doch Clara konnte den leisen Druck spüren, der sich in den Worten verbarg. Ihr Leben, so anders als das ihres Bruders, konnte nie dieselbe Bewunderung hervorrufen. Sie arbeitete als Grafikdesignerin – ein Job, den sie einst geliebt hatte, der jedoch mit der Zeit zu einer endlosen Abfolge von Monotonie und Leere geworden war. Die kreativen Projekte, die einst ihre Leidenschaft entfacht hatten, fühlten sich jetzt wie ein Käfig an, der sie einengte. Sie ließ den Kopf nach hinten sinken und blickte in den strahlend blauen Himmel, der sich über ihr ausbreitete. Es war Frühling – eine Zeit des Aufbruchs, der Erneuerung. Doch Clara fühlte sich, als würde sie auf der Stelle treten, Jahr für Jahr, ohne dass sich etwas veränderte. Jedes Mal, wenn die Natur in neuem Glanz erblühte, keimte in ihr die Hoffnung auf, dass auch sie ihren Weg finden würde. Aber diese Hoffnung zerbrach immer wieder, wie zarte Blüten, die im Wind verwehten. Langsam erhob sie sich von der Bank und begann ziellos durch den Park zu gehen. Ihre Schritte waren schwer, wie die Last, die sie in sich trug. Die Welt um sie herum war in Bewegung, doch sie selbst fühlte sich verloren in der Stille ihrer Gedanken.
Als sie die belebten Straßen der Stadt erreichte, blieb sie plötzlich vor einem kleinen, unscheinbaren Buchladen stehen. Sie hatte ihn zuvor nie bemerkt. Etwas an dem Laden zog sie an, ein leises Flüstern in ihrem Inneren, das ihr sagte, sie solle eintreten. Sie folgte diesem Impuls und wurde von dem vertrauten Geruch alter Bücher und Papier umhüllt. Inmitten der Regale, in der Ruhe des Ladens, fand Clara etwas, das sie seit Langem suchte – nicht unbedingt eine Antwort, aber einen Moment der Zuflucht. Ohne wirklich zu wissen, wonach sie suchte, wanderte sie durch die Gänge, bis ihre Finger an einem Buch für Selbsthilfe halt-machten. Der Titel lautete: »Die Kunst des Loslassens: Wie man den inneren Druck abbaut und die Kontrolle zurückgewinnt«. Clara blätterte zögernd durch die Seiten und merkte, wie die Worte direkt zu ihr sprachen, als ob der Autor ihre innersten Ängste und Zweifel gekannt hätte.
Als sie den Laden verließ, das Buch fest in den Händen, fühlte sie sich, als hätte sie einen ersten kleinen Schritt in eine neue Richtung gemacht. Die Fragen in ihrem Kopf waren noch da, die Unsicherheit, die sie begleitete, war nicht verschwunden – aber etwas in ihr hatte sich verändert. Ein leises Gefühl der Zuversicht, dass es vielleicht möglich war, sich von den Erwartungen anderer zu lösen und endlich ihren eigenen Weg zu finden.
An diesem Abend, als Clara in ihrer Wohnung saß und in den stillen Innenhof blickte, wusste sie, dass der Weg vor ihr nicht leicht sein würde. Aber vielleicht – nur vielleicht – war der Frühling diesmal wirklich der Beginn von etwas Neuem. Sie würde es wagen, Schritt für Schritt, ohne die perfekten Antworten zu kennen. Denn manchmal, dachte Clara, war das bloße Gehen der erste mutige Schritt.
ier, um deinen eigenen Text hinzuzufügen und mich zu bearbeiten.